[Offener Brief] Bethel: Rechtextreme Tätowierungen in der Gruppentherapie – Frau mit jüdischem Hintergrund sah sich gezwungen die Therapie zu verlassen

Wir dokumentieren hier einen offenen Brief
bezüglich eines Vorfalls im Umgang mit Rechtsextremismus in einer Einrichtung in Bethel, der uns mit Bitte um Veröffentlichung erreicht hat. Wir erklären uns solidarisch mit den Betroffenen!

Offener Brief:

In Bielefeld sah sich eine Frau mit jüdischem Hintergrund gezwungen eine
Therapiegruppe in Bethel zu verlassen. Zuvor hatte sie gemeinsam mit einer anderen Patient:in auf den rechtsextremen Hintergrund einer
Mitpatient:in hingewiesen.
Im Herbst 2020 sind die beiden Patient:innen (nachfolgend Antonia und Lu (Namen geändert)) auf Nazi-Symbolik an einer ihrer Mitpatient:innen (nachfolgend N. (Name geändert)) aufmerksam geworden. 
Dabei handelte es sich um Tätowierungen, die die Schwarze Sonne und die Odal-Rune zeigten, sowie um einen Aufnäher der Band Skrewdriver.
Skrewdriver war eine der bedeutendsten britischen Rechtsrockbands der 80er Jahre, ihre Mitglieder bekannten sich offen zum
Nationalsozialismus. Die Schwarze Sonne dient in der Naziszene als Ersatzsymbol für das Hakenkreuz und als szeneinternes Erkennungszeichen.
Sie kann auch als drei übereinanderliegende Hakenkreuze interpretiert werden. Die Odal-Rune ist eine alte nordische Rune. "Wiederentdeckt" wurde sie durch die Nationalsozialist:innen. In der BRD wurde sie durch die verbotene Neonazi-Organisation Wikingjugend als Symbol genutzt. Seit dem Verbot der Wikingjugend ist auch die Odal-Rune im neonazistischen Kontext verboten.
Die beiden Patient:innen wendeten sich mit diesem Wissen an die Gruppentherapeut:innen und teilten ihren Unmut und ihre Ängste über die
Situation mit. Insbesondere, da Antonia jüdischer Herkunft ist. Ihre
Vorfahren wurden von den Nazis verfolgt und während der Shoah ermordet.
Die Gruppentherapie sollte eigentlich auch für privateste Informationen
einen geschützten Raum darstellen. Antonia und Lu fühlten sich in diesem
Rahmen jedoch nicht mehr sicher. Sie befürchteten, dass private Informationen an gewaltbereite Nazis weitergegeben werden könnten.
Zunächst sah es so aus, als zeigten die Therapeut:innen viel Verständnis
für ihr Problem mit der Situation. Sie sagten, sie nähmen die Ängste der
beiden Patient:innen ernst und lehnten N.'s Einstellung ab.
Allerdings wollten sie nochmal mit der betreffenden Person sprechen, um
ihr die Chance zu geben, sich dazu zu äußern.
Eine Woche später wurde Antonia und Lu von einem der Therapeut:innen
mitgeteilt, was das Gespräch ergeben hat. Demnach sei N. tatsächlich vor
einigen Jahren mehrere Jahre lang der Neonaziszene angehörig gewesen,
sei dann aber ausgestiegen. Allerdings habe N. bis heute noch vereinzelt Kontakte dorthin. Die Band Skrewdriver habe N. gut gefunden, bevor sie politisch rechts wurde. Den Aufnäher habe N. dann einfach an der Jacke gelassen. Die Tattoos habe N. sich nicht überstechen lassen, da sie Teil ihrer Geschichte seien. N. beurteile Menschen nicht nach Äußerlichkeiten sondern würde auch immer dahinter schauen. N. könne aber verstehen, dass die Tattoos anderen Angst machen könnten. 
Der Therapeut fragte die beiden Patient:innen, ob sie sich vorstellen
könnten, in der Gruppe mit N. über die Situation zu sprechen. N. sollte
sich in der Gruppe dann zu den Symbolen äußern und sich distanzieren.
Antonia und Lu hielten N.'s Darstellung eines Ausstiegs jedoch nicht für glaubhaft.
Ein Ausstieg aus der rechten Szene ist erst dann abgeschlossen, wenn
alle Brücken zu anderen Rechtsextremen abgebrochen werden und die menschenverachtende Ideologie nach einem längeren Prozess der Selbstreflexion glaubhaft abgelehnt wird. Solange es noch private
Kontakte zur rechten Szene gibt, nazistische Symbole (in diesem Fall als Tattoos) offen getragen werden und nichtmal Aufnäher von Rechtsrockbands entfernt werden, kann wohl kaum von einem Ausstieg gesprochen werden.
Auch die Aussage, dass N. die Band Skrewdriver gut fand, bevor sie
rechts wurde, ist wenig überzeugend. Skrewdriver gehörte seit den frühen
80ern zu den bedeutensten Rechtsrockbands. Ihre Bedeutung in der Nazimusikszene überdeckt die kurze Phase, in der die Band andere Musik gemacht hat, bei weitem. Da N. nach eigenen Aussagen Teil der rechten Szene war, muss ihr die Bedeutung der Band bewusst gewesen sein.
Antonia und Lu lehnten also das Gesprächsangebot in der Gruppe ab, da
sie befürchteten, dass es zu einer unwidersprochenen Scheindistanzierung
von N. kommen könnte, die offensichtlich mit ihrer rechtsextremen Vergangenheit noch nicht komplett gebrochen hat. Stattdessen vereinbarten sie mit dem Therapeuten einen neuen Termin um nochmal ihre Einschätzungen zur Darstellung ihrer Mitpatient:in zu besprechen.
In der darauffolgenden Woche zog der Therapeut dieses Gesprächsangebot
jedoch kurzfristig zurück. In Rücksprache mit einer zweiten Therapeutin hätten sie beschlossen, das Thema doch zeitnah in der Gruppe
anzusprechen. Außerdem dürfe N. in der Gruppe bleiben, wenn sie sich
auch dort nochmal von ihrer Vergangenheit distanzieren und zukünftig die Symbole verdecken würde. Daraufhin wurden Antonia und Lu vor die Wahl gestellt, sich entweder an der für den darauffolgenden Tag angedachten
Gruppendiskussion zu beteiligen, oder aber die Gruppe zu verlassen. So
sahen sich die beiden dazu gezwungen, die Therapie vorzeitig zu beenden.
Sie rechneten aus oben genannten Gründen nicht mit einer glaubhaften
Distanzierung seitens N. und wollten vermeiden, sich N. gegenüber in
einer offenen Diskussion als diejenigen "outen" zu müssen, die die ganze Thematik angesprochen hatten. Aufgrund der nicht abgebrochenen Kontakte in die rechte Szene sahen sie darin immer noch ein direktes Risiko.
Es ist inakzeptabel, dass Therapeut:innen ihre Patient:innen vor die Wahl stellen, sich entweder einer möglichen Bedrohung durch Nazis
auszusetzen oder andernfalls die Therapie zu beenden. Insbesondere eine Patientin mit jüdischem Hintergrund aufzufordern, eine Gruppentherapie gemeinsam mit jemanden zu führen, die sich nicht glaubhaft von einer Ideologie distanziert, die für den industrialisierten Mord an Jüd:innen
verantwortlich ist, ist nicht hinnehmbar.
Wir fordern, dass Therapien als Schutzräume begriffen werden und
Menschen nicht in gemeinsame Therapiegruppen mit Rechten gezwungen
werden. Dazu muss Bethel die Therapeut:innen im Erkennen von und dem Umgang mit Rechtsextremismus schulen, wobei mit professionellen
Beratungsstellen zusammengearbeitet werden sollte.

Antonia, Lu und Unterstützer:innengruppe