[Redebeitrag] Gedenken heißt kämpfen!

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 – heute vor genau 82 Jahren – machten sich Männer in schwarzen Uniformen an der Synagoge an der Turnerstraße unweit des Bielefelder Kesselbrink zu schaffen. In den frühen Morgenstunden dann stand die 1905 eingeweihte und unter Denkmalschutz stehende Synagoge in Flammen. Um 4.49 Uhr wurde die längst informierte Feuerwehr offiziell alarmiert, die ihre Tätigkeit aber weisungsgemäß auf den Schutz von Nachbargebäuden beschränkte und dem Ausbrennen des Gotteshauses tatenlos zusah.

Zeitgleich zogen Nationalsozialisten durch das gesamte Stadtgebiet und zerstörten jüdische Geschäfte. „Fensterscheiben eingeschlagen, ein heilloses Durcheinander in den Geschäften, herausgerissene Schubladen, verstreute Wäschestücke und Schuhe, zertrümmerte Möbel, zerschlagenes und zertretenes Porzellan”, erinnerte sich eine Bielefelderin an die Pogromnacht. Das Textilgeschäft Herz Wisbrun in Brackwede wurden noch in der Nacht vom 10. auf den 11. geplündert und verwüstet, obwohl Propagandaminister Joseph Goebbels die Aktionen am 10. bereits für beendet erklärt hatte.

Der antisemitische Hass entlud sich im gesamten Deutschen Reich und äußerte sich in der Ermordung von mehr als 400 Jüd:innen, der Zerstörung von mehr als 1.400 Synagogen, der Verwüstung und Plünderung von etwa 7.500 jüdischen Geschäften und Wohnhäusern sowie der Verhaftung und Deportation von über 30.000 Jüd:innen. Die unfassbaren Gewaltaktionen werden heute als Novemberpogrome bezeichnet und markieren den Übergang von der Diskriminierung und Entrechtung zur systematischen Verfolgung und Vernichtung jüdischer Menschen. Die in Bielefeld geborene Helga Ravn erinnert sich: „… von da an wurde das Leben für uns Juden mehr und mehr unerträglich“.

Was in den folgenden Jahren geschah, lassen die zwei Gedenktafeln aus Metall hier auf dem Bahnhofsvorplatz nur erahnen. Auf den beiden Tafeln stehen die Namen von Jüd:innen, die unter der Herrschaft der Nationalsozialist:innen vom Bielelder Bahnhof aus in die Konzentrationslager deportiert und ermordet wurden. Insgesamt neun Deportationszüge mit Jüd:innen aus Ostwestfalen fuhren von hier in die Lager Auschwitz, Theresienstadt und Riga.

Der mit Abstand größte Deportationszug verließ am 31. Juli 1942 den Bielefelder Hauptbahnhof. 590 jüdischen Männern, Frauen und Kindern wurden aus dem Gestapo-Außenbezirk Bielefeld in das Konzentrationslager Theresienstadt gebracht, das von den Nationalsozialist:innen verharmlosend als „Altersghetto” bezeichnet wurde. Zu den Verschleppten gehörte auch die sechsköpfige Familie Frenkel aus Lemgo, die am 28. Juli mit den Müttern des Ehepaares in das Sammellager „Kyffhäuser” am Kesselbrink gebracht wurde, wo sie auf Bänken oder dem Boden liegend ausharren mussten. Am Tag der Deportation wurden die Menschen mit der Straßenbahnen Linie 3 vom Kesselbrink zum Güterbahnhof gebracht. Dort wurden sie in einem überfüllten Personenzug zusammengepfercht, erinnert sich Karla Frenkel – der Tochter der Familie. Die Verschleppung der Menschen fand keineswegs im Geheimen, sondern unter den Augen der Öffentlichkeit statt, die im Wahn der Volksgemeinschaft, jede Menschlichkeit abgelegt hatte.

Als der Zug in Theresienstadt ankam, musste Karla Frenkel mit ansehen, wie ihre 75-jährige Großmutter väterlicherseits mit anderen Menschen auf einen „vollgeladenen Wagen” geschmissen wurde. Das „Altersghetto” entpuppte sich als ein Lager, in dem die Menschen ohne Matratzen auf dem Erdboden lagen, Wanzen und Flöhen ausgesetzt waren und starken Hunger litten. Von der Lemgoer Familie Frenkel überlebten nur Karla und ihre Großmutter mütterlicherseits.

Von den schätzungsweise 1800 Deportierten Jüd:innen aus Bielefeld überlebten nur 28. Zu ihnen gehörte der in Werther geborene und aufgewachsene Artur Sachs, der mit seiner Frau Berta in in der Lützowstraße, der heutigen Karl-Eilers-Straße, wohnte. Beide haben die „Hölle auf Erden“ – wie sie die Shoa nannten – überlebt. Sie kehrten nach Bielefeld zurück und engagierten sich beim Wiederaufbau der Synagogengemeinde. In einem Gespräch mit der Shoa Foundation teilte Artur Sachs mit, dass er sich, wenn er mit seiner Frau in den 1950er und 1960er Jahren durch die Einkaufstraßen Bielefelds ging und sich Schaufenster anschaute, oft die Frage stellte, was gleichaltrige oder ältere Passanten, die neben ihm standen, zwischen 1933 und 1945 gemacht haben. Obwohl er dabei jedes Mal ein ungutes Gefühl hatte, spielte er nicht mit dem Gedanken, Bielefeld oder Deutschland zu verlassen. Diese Gedanken kamen ihm erst, als in den 1980er Jahren Gräber auf dem jüdischen Friedhof mit Hakenkreuzen und Schmähschriften geschändet wurden.

Heute, 75 Jahre nach der Niederlage des nationalsozialistischem Deutschland, bezeichnet Alexander Gauland die Zeit des deutschen Faschismus mit der damit einhergehenden Ermordung von über 6 Millionen Jüd:innen, der Verfolgung politischer Gegner*innen und den brutalen Angriffskriegen „als Vogelschiss in der Geschichte“. Das Mahnmal für die Opfer der Shoah bezeichnet sein Parteifreund Björn Höcke als „Denkmal der Schande, welches sich das deutsche Volk in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat“ und fordert eine „180-Grad-Wende der deutschen Erinnerungskultur“. In Deutschland findet ein Rechtsruck statt, der sich nicht nur in allen Parteien und in den Parlamenten ausdrückt. Brennende Unterkünfte für Geflüchtete oder antisemitische Angriffe wie zuletzt auf einen jüdischen Studenten in Hamburg oder der Mordanschlag auf die Synagoge in Halle sind Ausdruck der reaktionären Entwicklungen dieser Gesellschaft.

Unser Gedenken kann nur mit der kompromisslosen Forderung verbunden sein: Nie wieder! Das bedeutet, wir müssen uns organisieren, auf die Straße gehen und kämpfen, gegen Antisemitismus, Nationalismus und Faschismus. Es liegt an uns, die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus wachzuhalten und uns auch heute Faschist:innen in den Weg zu stellen.

Wie auch im letzten Jahr möchten wir unseren Redebeitrag mit dem Schwur von Buchenwald abschließen:

„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“