Seit 2018 findet jährlich am 9.November eine linke, antifaschistische Gedenkdemo in Bielefeld statt. Ursprünglich hat die Demonstration als Bündnisdemo stattgefunden, um ein Gegengewicht zu einem unerträglichen Naziaufmarsch zu schaffen. Unter dem Motto „Gedenken heisst kämpfen“ war es uns wichtig zu zeigen, dass Gedenkpolitik nicht beim Erinnern an Verbrechen der Vergangenheit stehen bleiben darf, sondern auch aktiv Konsequenzen für aktuelle Kämpfe ziehen muss. Auch ohne Nazidemo haben wir als Antinationale Linke die 9.November Demo in Bielefeld weitergeführt. Es gibt weiterhin genug in dieser Gesellschaft gegen das wir kämpfen müssen. Wir sind stolz darauf, dass die Demo mittlerweile zum siebten mal stattfindet und fest zum Kalender der antifaschistischen Bewegung in Bielefeld gehört.
Wir hatten dabei stets den Anspruch die Demo nicht zu einem Ritual verkommen zu lassen, sondern aktuelle Entwicklungen zu thematisieren.
Im letzten Jahr kam es etwa einen Monat vor unserer Demo zum Massaker der Hamas am 7.Oktober.
Die Islamist*innen überwanden israelische Wachposten und überfielen etliche Kibbuzim sowie ein Elektrofestival. Über 1200 überwiegend jüdische Menschen wurden grausam ermordet, Frauen und Mädchen vergewaltigt. Stundenlang wurden tausende Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert. Über 250 Menschen wurden als Geiseln verschleppt, ca. 100 befinden sich noch immer in der Gewalt der Hamas. Dieser Anschlag zeigte auf abscheuliche Art und Weise, worin Antisemitismus jederzeit gipfeln kann: Vernichtungswillen!
Die Botschaft an Jüdinnen und Juden war: Sie sollen sich in Israel nicht mehr sicher fühlen. Die Taten verdeutlichen zudem, dass Antisemit*innen das tatsächliche Verhalten jüdischer Menschen nicht interessiert: so wurde ein Kibbuzim und ein alternatives Festival überfallen, wo viele Menschen an Dialog und Frieden interessiert sind. Sie wollten jüdisches Leben als solches angreifen und vernichten.
Der 7. Oktober verdeutlichte jedoch nicht nur die existenzielle Gefahr, die von der Hamas und ihren Verbündeten ausgeht. Er offenbarte zudem, wie verbreitet antisemitische Einstellungen noch immer in den Köpfen der Menschen weltweit sind. Vielerorts kam es zu Versammlungen, bei denen die Taten der Hamas bejubelt wurden. Anschläge auf Synagogen, das Markieren von Wohnungen jüdischer Menschen sowie körperliche Gewalt an ihnen sind weitere traurige Beweise.
Der 7. Oktober 2023 und seine Folgen stellen eine Zäsur für jüdisches Leben weltweit dar und wecken intergenerationale Traumata.
Wenn jüdische Menschen sagen, dass sie sich nicht mehr sicher und sich von ihren Mitmenschen im Stich gelassen fühlen, dann muss das für uns alle ein eindringlicher Weckruf sein! Das bedeutet zum einen, sich der vernichtenden Dimension des Antisemitismus sowie der allgegenwärtigen, existenziellen Gefahr für Jüdinnen und Juden bewusst zu werden. Zum anderen bedeutet es, Antisemitismus klar zu benennen und auf allen Ebenen entgegenzutreten!
Wir haben die Taten des 7.Oktober bei unserer Demo im letzten Jahr nicht klar genug benannt. Für uns war und ist aber klar: Als Linke müssen wir diese islamistische, antisemitische Gewalt bekämpfen. Hamas oder Hisbollah sind keine Befreier*innen, sondern Mörder*innen. Wer mit diesen Gruppen sympathisiert oder ihre Taten relativiert, hat sich von jedem grundlegenden emanzipatorischen Anspruch verabschiedet. Das trifft leider auch auf einige linke Gruppen zu mit denen wir in den letzten Jahren die Straße geteilt haben.
Zur Realität des Nahostkonflikts gehört aber ebenso die Reaktion der extrem rechten Regierung Israels. In einem brutalen Krieg hat sie zehntausende Menschen getötet. Sie nimmt dabei keine Rücksicht auf das Leben der Zivilist*innen der Region und inbesondere auch nicht auf das der immer noch verschleppten Geiseln. Diese Reaktion hat die Hamas bei ihrem Angriff am 7.Oktober mit einkalkuliert.
Zur Realität des Nahostkonflikts gehört, dass für keine der Konfliktparteien ein Menschenleben viel Wert besitzt. Leid und Tod lassen sich nicht gegeneinander aufwiegen. Krieg wird keine Gerechtigkeit bringen.
Die Wut auf Israels Kriegsführung darf nicht an der Jüdischen Mitschülerin und auch nicht an der Synagoge um die Ecke ausgelassen werden. Jüd*innen und jüdische Gruppierungen sind nicht mit dem Staat Israel gleichzusetzten. Das ist Antisemitismus! Außerdem gilt: Jeder Staat hat ein Militär, die Meisten eine Wehrpflicht und wenn eine Regierung dies als Notwendig betrachtet schickt sie ihre Bevölkerung in den Krieg um Angehörige anderer Nationen zu Töten, das ist keine Besonderheit Israels! Auch sogenannte „Kriegsverbrechen“ gehören zum Krieg wie die Generäle und das Lazarett. Die Bilder die wir seit über einem Jahr sehen sind kein Anlass „Antiisraelisch“ oder „Antizionistisch“ zu werden. Sondern gegen jeden Krieg zu kämpfen! Gegen jeden Nationalismus und für eine Welt die nicht unter Nationalstaaten aufgeteilt ist.
Unsere Solidarität gilt den Menschen, die unter diesem Krieg leiden – den Zivilist*innen in Israel, die in ständiger Angst vor Raketenangriffen leben, den immer noch verschleppten Geiseln und den Menschen in Gaza, die unter Bombardierungen und der mörderischen Herrschaft der Hamas leiden.
Der Nahostkonflikt besitzt eine lange, komplexe und widersprüchliche Geschichte die sich nicht ohne Weiteres in eine Richtung auflösen lässt. In der Linken wird dieses Thema in einer Vehemenz behandelt, wie wohl kein anderes. An der Position zu Israel zerbrechen Bündnisse, Gruppen und Freund*innenschaften. Es herrscht ein unglaubliches Lagerdenken, das Widersprüche und Grauzonen nicht zulässt. Ausgewogene Stimmen, die Kritik an Hardlinern beider Seiten üben, sind kaum sichtbar.
Die Ohnmacht diesem schrecklichen Konflikt gegenüber mündet in umso vehementerer Parteinahme für eine Seite, die so konstruierte Eindeutigkeit schützt vor der tatsächlichen Hilflosigkeit. Es wird sich dann regelmäßig im Bedürfnis nach identitärer Abgrenzung nur an der jeweils anderen Seite abgearbeitet.
Wir erwarten gerade von Linken, die ihren Arbeitsschwerpunkt auf den Nahostkonflikt gelegt haben, eine reflektierte Position, die aus dem binären Denken ausbricht, Widersprüche anerkennt und antisemitische sowie rassistische Gewalt gleichermaßen benennt. Dabei muss beachtet werden, dass nicht jede Kritik an Israel antisemitisch ist und andererseits nicht jede Kritik an palästinasolidarischen Bewegungen rassistisch ist.
Als Gruppe weigern wir uns widerspruchsfrei Partei für eine Seite im Konflikt zu beziehen. Stattdessen sind bei uns unterschiedlichste Positionen vertreten. Wir diskutieren und streiten über diese Positionen, können sie jedoch auch nebeneinander stehen lassen. Denn wir wissen: Was uns verbindet ist nicht eine bestimmte Position im Nahostkonflikt, sondern die Überzeugung, dass allen Menschen ein gutes Leben zusteht. Und dass wir dieses gute Leben nur jenseits von Staat, Nation und Kapital erreichen können. Was uns verbindet ist das Wissen, dass wir nicht zu Allem einer Meinung sein müssen. Wir können auch über den Nahostkonflikt miteinander streiten ohne in Lagerdenken zu verfallen. Ohne sich unkritisch hinter den Krieg eines rechten Regimes zu stellen, ohne islamistische Morde zu beklatschen, ohne Rassismus oder Antisemitismus hier in Deutschland zu befeuern.
Wir finden es unerträglich, dass es für diesen Konflikt keine einfachen Lösungen gibt. Wir dürfen uns von unserer Ohnmacht aber nicht dazu verleiten lassen, uns von linken Mindeststandards zu verabschieden und falsche Bündnisse einzugehen. Eine Linke die das tut, macht sich selbst überflüssig.
Rote Linien sind klar zu ziehen. Die Linien verlaufen allerdings nicht daran ob Personen sich als Israel- oder Palästinasolidarisch bezeichnen, sondern daran ob sie es schaffen diese Positionen ohne Antisemitismus und Rassismus zu vertreten und ob sie ihrerseits diese roten Linien ziehen. Über alles andere können wir streiten.
Gerade heute am neunten November, hoffen wir, dass der Krieg bald endet und alle jüdischen Menschen weltweit ein Leben in Sicherheit und Freiheit führen können.
Gegen jeden Antisemitismus.
Gegen jeden Rassismus.