[Redebeitrag] Gedenkdemo Enver Şimşek

Wir stehen hier heute um an Enver Şimşek, das erste Mordopfer des NSU zu erinnern. Seine Ermordung war der Auftakt zu einer der größten rechten Mordserie der Nachkriegszeit. Offiziell ermordeten die Rechtsterroristen im Laufe von sechs Jahren zehn Menschen. Wir sprechen von offiziellen Morden, weil bis heute viele Fragezeichen bleiben und diese auch vom fünf Jahre dauernden Prozess nicht aufgeklärt werden konnten.

Der Prozess und die vielen parlamentarischen Untersuchungsausschüsse enttäuschten. Schnell sollte ein Schlussstrich unter den NSU gezogen werden. Mitwisser:innen, Helfer:innen und Mittäter:innen wurden nicht ermittelt, das dahinterstehende Netzwerk nicht aufgedeckt. Es wurde nicht nach weiteren Morden gefahndet, auch wenn es Hinweise darauf gab und gibt. Selbst die Hinterbliebenen wurden schnell wieder mit ihrem Leid alleine gelassen. Auch sie sind es, die nach wie vor Fragen stellen und eine tatsächliche Aufklärung die ihren Namen auch verdient einfordern müssen. Die Ermittlungsbehörden, die Untersuchungsausschüsse und das Urteil des Gerichts stellen den NSU als abgeschottetes Trio dar. Die Nebenkläger, weitere Angehörige der Opfer und Antifaschistische Medien weisen dagegen seit Jahren darauf hin, dass der NSU kein Trio war. Bereits in der Bekenner-DVD des NSU heißt es „Der NSU ist ein Netzwerk von Kameraden“. Sie waren Jahrelang auf die Hilfe dieser Kamerad:innen angewiesen um unterzutauchen, um sich Waffen und Munition zu besorgen und um an Informationen zu möglichen Anschlagszielen zu gelangen. Gerade dabei waren sie und ihr Unterstützer:innennetzwerk sehr akribisch. Im letzten Versteck des NSU wurde eine Liste mit über 10.000 Orten und Namen gefunden, die sogennante „Todesliste“. Darauf sind Hinweise auf mögliche Einstiegs- und Fluchtmöglichleiten, auf Risiken und auf mögliche Ziele. Es ist allein logistisch unmöglich, das diese Liste nur von 3 Personen angefertigt worden ist. Auch 21 Bielefelder Personen und Adressen finden sich auf der Liste. Darunter vermeintlich typische rechte Ziele aber auch auffällig viele Politiker_innen. Ermittlungen zum Zustandekommen der Liste für Bielefeld in der lokalen Nazi Szene hat es laut der Polizei nie gegeben! Laut einem internen Aktenvermerk der Polizei wurden die Ausdrucke der Adressübersicht sowie der Detailkarten von Bielefeld am 03.04.2006 erstellt. Einen Tag später ermordete der NSU in Dortmund sein achtes Opfer. Laut der Akte vermutet die Polizei deshalb, dass die Täter an diesem Tag eine Weiterreise von Dortmund nach Bielefeld erwogen haben. Dass es dazu nicht kam, könnte damit zusammen hängen das sie bereits davor in OWL gemordet haben.

Am 01.03.2006 wird in Rheda-Wiedenbrück der 68-jährige Fefzi Ufuk vor einer Moschee erschossen. Die Moschee steht auch auf der „Todesliste“ des NSU. Bis heute ist der Mord nicht aufgeklärt. Zwar hatte die Polizei 2012 nach der Selbstenttarnung des NSU eine Verbindung zur Todesliste erkannt, aber schnell wieder verworfen. Für die Polizei steht fest: Der Fall ist nicht verfahrensrelevant für den NSU-Komplex. Die Staatsanwaltschaft behauptet in einem Schreiben, dass die bei der Tat in Rheda-Wiedenbrück verwendete Waffe nicht mit den Waffensystemen des NSU übereinstimmt. Es handelt sich laut der Staatsanwaltschaft bei der Tatwaffe um eine Pistole des Modells 9mm Makarow, die mit der eigentlich unpassenden Munition 9mm Browning kurz geladen war. Recherchen von Journalist:innen haben aber 2018 genau diese ungewöhnliche Kombination in den Asservaten des NSU gefunden.

Trotz dieser starken Indizien für eine Beteiligung des NSU sieht die Staatsanwaltschaft keine Veranlassung die Ermittlungen wieder aufzunehmen. In den Akten zum Mordfall heißt es dagegen die Polizei sieht ein Mordmotiv in dem – Zitat- :

[…] „für türkische Lebensverhältnisse äußerst unsteten Lebenswandel des Opfers” […]

Wie auch schon bei den anderen Morden wird wieder die Familie und das Umfeld des Opfers zu Tätern gemacht, statt den in dem Fall sogar konkreten Hinweisen auf einen Nazimord nachzugehen! Wir fühlen uns erinnert an die Diskussion um die „Dönermorde“, als die die Morde des NSU vor dessen Selbstenttarnung bezeichnet wurden. Der Begriff ist ein Beleg dafür, wie lange Ermittler:innen und Journalist:innen im Dunkeln tappten – aber auch, welche rassistischen Vorurteile mitschwangen. Auch hier sprechen einige Indizien dafür, dass die Version der Polizei nicht plausibel ist. Wie die Polizei zu ihrer Schlussfolgerung kommt, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Aber bereits die damaligen Ermittlungen waren unzureichend. So wurde nie das Projektil gefunden, obwohl das Gelände der Moschee nicht besonders weitläufig ist. Doch wer war die Person, die den Ort für das Kerntrio ausgespäht hat? Auch dazu liegt eigentlich genug für Ermittlungen auf dem Tisch. Wie Antifaschist:innen herausfanden, wohnte NPD Kader Siegfried Reball damals nur 400m entfernt. Auch bei anderen Morden des NSU wohnten Kameraden in der direkten Umgebung der Tatorte.

Nochmal zusammengefasst: Im direkten Umfeld eines Nazis wird mit einer untypischen Kombination aus Waffe und Munition, die so auch beim NSU gefunden wurde, an einem Ort der auf der NSU „Todesliste“ stand, ein Mord begangen im direkten zeitlichen Umfeld von anderen NSU Morden. Einen Monat nach der Ermordung von Fefzi Ufuk beging der NSU im Frühjahr 2006 nachweislich zwei Morde. Am 4. April in Dortmund und am 6. April in Kassel. Die Morde waren präzise vorbereitet und die Objekte sehr genau ausgespäht. Die Autobahn A44 verbindet Kassel mit Dortmund. Ungefähr in der Mitte zwischen Dortmund und Kassel liegt – knapp 30km von der Autobahn entfernt – Rheda-Wiedenbrück. Vieles deutet also auf eine Tatbeteiligung des NSU – nur nicht für die Staatsanwaltschaft. Würde auch so mangelhaft ermittelt werden, wenn Fefzi Ufuk einen deutschen Namen getragen hätte? Wohl kaum!

Viele Indizien deuten darauf hin, dass es auch in OWL einen NSU Mord gab. Doch seit 2018 bauen die Behörden eine Mauer des Schweigens um den Fall. Die Staatsanwaltschaft Bielefeld beantwortet seit Jahren keine Medienanfragen zu dem Fall. Für uns ist klar der NSU war nicht zu dritt, sondern ein Todeskommando der bundesweiten Nazi-Szene, in deren Aktivitäten der Staat durch V Männer und Finanzmittel tief verstrickt war. Deswegen wurden Akten geschreddert. Deswegen sind Akten für Jahrzehnte gesperrt und deswegen hüllt sich die Staatsanwaltschaft Bielefeld in Schweigen. Der NSU das waren Staat und Nazis Hand in Hand.

Wie viele Morde sind darüber hinaus noch vom NSU begangen worden? Wie viele Mitwisser:innen, Mittäter:innen und Helfer:innen laufen nach wie vor unbehelligt auf offener Straße rum? Wie können wir sicher sein, dass aus diesem Netzwerk sich gerade nicht das nächste Trio bereit macht um Angst und Schrecken im Namen des Nationalsozialismus zu verbreiten?

Die Behörden haben seit der Selbstenttarnung des Trios gezeigt, dass sie es nicht sind, die uns diese Fragen beantworten werden. Wollen wir tatsächliche Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen, dann liegt es an uns Druck aufzubauen. Dann liegt es an uns sich zu organisieren, sich zusammenzuschließen und selbst zu recherieren. Das wird niemand für uns erledigen, das müssen wir selbst machen! Auch weil die antifaschistische Bewegung damals versagt hat die Mordserie als das zu erkennen was sie war.

Schließt euch zusammen, gründet Gruppen, baut Druck auf oder schließt euch einer der zahlreichen antifaschistischen Gruppen in Bielefeld an. Denn nur gemeinsam können wir endlich dafür sorgen, dass der Mord an Fefzi Ufuk und das Netzwerk NSU endlich aufgeklärt wird!

Gedenken heißt kämpfen!