[Vortrag] Nationale Befreiung oder Befreiung von der Nation

Wenn man die alltägliche Gewalt und die historischen Massengräber des Nationalismus betrachtet, verwundert es, dass es auch heute noch linke Bewegungen gibt, die im Nationalismus das Instrument zur Befreiung sehen. Tatsächlich stand hinter dem Konzept der Nation historisch aber auch mal eine emanzipatorische Idee: Es ging es darum, Untertan:innen unabhängig von Herkunft und Stand zu gleichen und freien Subjekten zu machen. Bekanntermaßen

ist daraus nichts geworden. Stattdessen wurde Nationalismus zur Herrschaftsideologie, zur Grundlage für die Legitimation des Ausschlusses und der Gewalt gegenüber den »Anderen«. Trotzdem hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg fast jede Revolution in nationalen Begriffen definiert, vor allem in den antikolonialen Kämpfen. Aber auch im globalisierten postkolonialen 21. Jahrhundert wird Befreiung weiterhin vorrangig national gedacht. Seit dem antisemitischen Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 und der darauffolgenden Eskalation im Nahen Osten ist auch in der deutschen Linken wieder vermehrt eine positive Bezugnahme auf den »nationalen Befreiungskampf« (der Palästinenser:innen) zu finden. Aber wer soll da eigentlich von wem befreit werden? Wie kann es sein, dass baskische Kommunist:innen und deutsche Neonazis beide ein »Europa der freien Völker« fordern? Wie kommt es überhaupt, dass Menschen bereit sind, für ihre Nation zu arbeiten, zu kämpfen, zu sterben und zu töten? Und was ist aus der antinationalen Kritik geworden?

Thorsten Mense ist Soziologe und freier Journalist. Er promovierte zur Kritischen Theorie des Nationalismus und linksnationalistischen Befreiungsbewegungen in Katalonien und im Baskenland. Letztes Jahr erschien die überarbeitete Neuauflage seines Buches »Kritik des Nationalismus« in der theorie.org-Reihe (Schmetterling Verlag).