[Redebeitrag] Gedenken heißt kämpfen!

  Wie viele von euch wissen, stehen wir hier an der Friedrich-Ebert Straße. 1933 sah es in der Straße noch ganz anders aus. An einigen Fassaden in Richtung Jahnplatz kann man es noch erkennen. Die Straße war gesäumt von hohen Häusern aus der Jahrhundertwende und von noch früher. Vor den Häusern auf der Straße lagen Schienen und es fuhr die ehemalige Stadtbahn Linie 3 direkt an der Oberfläche. Mit zentralem Blick auf den damals schon existenten Kesselbrink lag an der Friedrich-Ebert-Straße, wo sich heute ein Stoffladen befindet, das Kyffhäuser Haus. In diesem Haus traf sich schon seit mindestens 2 Jahrzehnten die Bielefelder Kolonialgesellschaft, der auch namenhafte Bürger der Stadt angehörten. Diese rassistische Vereinigung wollte den kolonialen Gedanken wiederaufleben lassen und feierte hier in den 20er und 30er Jahren rauschende Feste. Stellvertretender Vorsitzender der deutschen Kolonialgesellschaft war übrigens Konrad Adenauer, der maßgeblich dafür verantwortlich war, dass das Entnazifizierungsprogramm der jungen BRD derart zahnlos war.

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialist:innen im Jahre 1933 wurde auch die Bielefelder Kolonialgesellschaft in den Reichskolonialbund eingegliedert und war damit Teil einer parteinahen Organisation der NSDAP. Das Kyffhäuser Haus ging somit indirekt an die Nazis über, die diesen zentralen Ort für ihre Zwecke zu nutzen.

Bis 1940 diente es zunächst als Gaststätte für die lokale Parteiprominenz, in der Treffen verschiedener NS Organisationen abgehalten wurden. Ab 1941 jedoch wurde das Kyffhäuser umfunktioniert. Die großen, schweren Möbel wurden an die Seite geschoben, der Boden mit Stroh ausgelegt. Das Kyffhäuser war ab nun zentraler Sammelstelle für Juden und Jüdinnen und somit Ausgangspunkt für die Transporte zur systematischen Ermordung und Vernichtung jüdischer Menschen aus ganz OWL.

Die erste Deportation aus Bielefeld fand im Dezember 1941 statt. Nachdem Jüdinnen und Juden in ganz OWL Stunden zuvor von der Gestapo mit Unterstützung der Bielefelder Polizei ihre Deportationsbescheide bekamen, mussten sich 420 Menschen im Kyffhäuser einfinden. Sie kamen aus Bielefeld, Herford, Bünde, Vlotho und Gütersloh, aus Lemgo, Detmold und Brakel, aus Paderborn, Fürstenau, Lügde und Bad Lippspringe, aus Minden, Hausberge und vielen anderen Städten und Gemeinden Ostwestfalen-Lippes. Sie durften diesen Raum für 3 Tage nicht mehr verlassen. Das meiste ihres Hab und Guts mussten sie zurücklassen, wenige Dinge haben Sie in Koffer gepackt.

Dass Jüdinnen und Juden hier im Kyffhäuser Haus eingesperrt waren, mitten am zentralen Platz in Bielefeld, war kein Geheimnis. Die einzigen die sich jedoch trauten nachzuschauen was dort genau vor sich ging waren Schüler:innen, die jedoch schnell von Gestapo Männern vertrieben wurden. Auch wenn es nicht in der Zeitung stand, auch wenn es nicht im Radio durchgesagt wurde, die Mehrheit der Bielefelder:innen wusste was hier vor sich ging. Sie wussten, dass jüdische Menschen, die schon seit 1939 in sogenannten Judenhäusern leben mussten, eingesperrt und verschleppt werden würden. Und sie hätten ahnen können, dass ihnen die Vernichtung droht. So waren Gerüchte über Massenerschießungen aller nicht arbeitsfähiger Juden und Jüdinnen schon länger im Umlauf.

Am 13. Dezember 1941, 3 Tage nach Eintreffen im Kyffhäuser, wurden die Menschen vor dem Haus zusammengetrieben und in Busse verfrachtet. Vor den Augen der Öffentlichkeit wurden sie quer durch die Innenstadt zum Bielefelder Hauptbahnhof gefahren! Nach Berichten aus der Zeit wurde nicht einmal versucht das Geschehen zu verheimlichen. Viel mehr heißt es in einem Sicherheitsbericht:„die Aktion wurde von dem weitaus größten Teil der Bevölkerung begrüßt”. Einige machten zynische Kommentare, die meisten schwiegen. Sie alle hatten eine Wahl und sie haben sich dafür entschieden nichts zu tun. Sie haben sich dafür entschieden zu schweigen, zu glotzen und einfach weiter ihren Besorgungen nachzugehen. Sie haben sich nicht dafür entschieden einzuschreiten, Unmut zu äußern oder die Deportierten zu unterstützen.

Ziel des Zuges der am 13. Dezember 1941 Bielefeld verließ war das Ghetto in Riga. Artur Sachs, einer der wenigen Überlebenden der Deportation berichtet im Nachhinein: „Im selben Moment, als wir den Zug verließen, begann für uns die richtige KZ-Zeit. Wir wurden sofort von der SS mit ihren Hunden und Peitschen in Empfang genommen. Wer nicht schnell genug laufen konnte – und dies war fast unmöglich, da die Straßen in Riga total vereist waren –, wurde auf der Stelle erschossen. Alte Menschen wurden niedergeschlagen und sofort abtransportiert.“

Das Ghetto war ein mit Stacheldraht umzäunter Stadtteil in Riga. Als der Deportationszug mit den aus Bielefeld verschleppten Menschen ankam, schienen alle Häuser bewohnt, auch wenn einige leer waren. Erst im Nachhinein erfuhren die Deportierten, dass die vor ihnen dort lebenden lettischen Juden und Jüdinnen einige Tage zuvor in einem nahegelegenen Wald umgebracht wurden.

Von den 420 im Dezember 1941 aus OWL deportierten Menschen haben nur 48 überlebt. Die anderen 372 sind auf Grund der furchtbaren Bedingungen im Ghetto verstorben, sind im Ghetto oder in den darauf folgenden Konzentrationslagern ermordet worden. Auf die Deportation vom 13.Dezember 1941 folgten 9 weitere Deportationen allein aus Bielefeld, unter Anderem nach Auschwitz und Theresienstadt.

Vieles über die grausame Vernichgungsmaschinerie der Nationalsozialist:innen wissen wir nur durch Menschen wie Artur Sachs, die die „Hölle auf Erden“, wie er die Zeit des deutschen Faschismus nannte, überlebt haben. Aber auch durch konspirative Aufzeichnungen, mit denen jüdische Menschen die Gräueltaten der deutschen Faschist:innen dokumentieren und bekannt machen wollten. Ein Beispiel aus Bielefeld sind die Briefe von Thekla Lieber, die während ihrer Deportation aus Bielefeld in das Vernichtungslager Auschwitz Birkenau Postkarten aus dem Zug warf, und so eine Dokumentation des Geschehenen überhaupt erst möglich gemacht hat.

Insgesamt wurden in Bielefeld 429 Menschen wegen solchen und anderen Widerstandshandlungen festgenommen. Im Gegensatz zur aktiven Zustimmung oder schweigenden Passivität der meisten Bielefelder:innen haben diese Menschen gezeigt, dass es eine Wahl gab und für Widerstand keine Waffe notwendig gewesen wäre. Die Postkarten die Thekla Lieber aus dem Deportationszug warf zeigen, dass es einfache Möglichkeiten gab sich der Auslöschung des jüdischen Lebens zu widersetzen. Oder aber das Handeln von Antifaschist:innen wie Hermann Kleinewächter, der auch hier in der Friedrich Ebert Straße 2 wohnte und mit seinen Arbeitskolleg:innen das Radio der Alliierten hörte und die Informationen im Betrieb weitergab. Und nicht zuletzt die vielen Menschen in den Ghettos und Konzentrationslagern, die versuchten im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Leid für alle zumindest ein kleines Stück erträglicher zu machen. Ohne diese mutigen und starken Persönlichkeiten wären vermutlich noch mehr Menschen vernichtet worden. Ohne Sie wüssten wir viel weniger über die Geschehnisse der Shoah und die industrielle Ermordung von über 6 Millionen jüdischen Menschen. Und letztlich wären ohne sie noch mehr Täter:innen davongekommen. Mit unserer heutigen Demonstration möchten wir diesen Menschen wie auch allen anderen Opfern des nationalsozialistischen Deutschlands gedenken.

Abschließen möchten wir unseren Redebeitrag wie in den letzten Jahren mit dem Schwur von Buchenwald:

„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“