Folgender Redebeitrag wurde auf der Kundgebung „Solidarisch aus der Krise! – Gesundheit darf keine Ware sein“ gehalten. Er stammt nicht von alibi. Wir veröffentlichen ihn hier mit freundlicher Genehmigung.
psychische Gesundheit
Der folgende Redebeitrag berichtet aus Betroffenenperspektive über die Probleme der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung im Gesundheitssystem. Ich habe ihn gemeinsam mit meiner Mitbewohnerin geschrieben, die psychische Krankheiten hat.
Die letzten 2 Jahre waren durch die Coronapandemie für uns alle eine belastende Zeit. Wir hatten Angst vor Ansteckung, Unsicherheiten im Job, Vereinsamung durch Isolation von sozialen Kontakten. Dadurch sind natürlich auch zahlreiche psychische Krankheiten entstanden. Viele Therapeut:innen berichten von einer Rekordzahl an neuen Anfragen. Diese Anfragen treffen auf ein Therapiesystem, dass schon vorher chronisch überlastet war. Die Wartezeit auf einen Therapieplatz betrug schon 2017 durchschnittlich 5 Monate. Für komplexe Erkrankungen kann die Wartezeit noch einmal deutlich höher sein. Meine Mitbewohnerin hat eine Kombination verschiedener komplexer psychischer Erkrankungen. Letztes Jahr hat sie Briefe an über 120 Therapeut:innen in Bielefeld und Umgebung geschrieben. Das Ergebnis waren fünf(!) positive Antworten, mit Angeboten für Wartelisten von teilweise etwa 2 Jahren. Viele andere Therapeut:innen sind derartig überrannt, dass sie ihre Wartelisten komplett geschlossen haben.
Doch warum ist das Behandlungsangebot überhaupt so schlecht? Das liegt unter anderem an der sogenannten Bedarfsplanung der Kassenplätze. Nicht alle Therapeut:innen können einfach Behandlungen anbieten, die dann über die gesetzlichen Krankenkassen genutzt werden können. Sie brauchen dafür einen sogenannten Kassensitz. Die Anzahl der Kassensitze wird durch den gemeinsamen Bundesausschuss festgelegt. In diesem Ausschuss sitzen Verteter:innen der Behandler:innen, der Krankenkassen und der Patient:innen, wobei die Patient:innenvertreter:innen kein Stimmrecht besitzen. Die Sitze wurden bisher erst zweimal festgelegt: Einmal 1999 und dann wieder 2019. 2019 hat der gemeinsame Bundesausschuss dafür extra ein Gutachten anfertigen lassen, das einen Mehrbedarf von mindestens 2400 Kassensitzen feststellte. Den Krankenkassen war das zu teuer und stattdessen gab es entgegen den Empfehlungen ihres eigenen Gutachtens nur knapp 800 neue Sitze. Aus finanziellen Gründen wird hier also bewusst in Kauf genommen, dass Menschen mit schwerwiegenden Krankheiten monatelange auf eine Behandlung warten müssen.
Die lange Wartezeit im Fall meiner Mitbewohnerin hat einen weiteren Grund. Nur wenige Therapeut:innen spezialisieren sich auf seltene und komplexe Erkrankungen, weil diese oft weniger erforscht sind und der Behandlungserfolg in der von den Krankenkassen vorgegebenen Behandlungsdauer oft geringer ist. Nach der vorgegebenen Behandlungsdauer seien Therapien laut Krankenkassen nicht mehr wirksam, sodass eine 2-jährige Therapiezwangspause auferlegt wird, obwohl fachliche Erkenntnisse belegen, dass durchgängige Therapie oft sinnvoller ist. Auch Patient:innen, die endlich einen Therapieplatz gefunden haben, können also wieder ganz ohne Therapie dastehen, wenn die von den Krankenkassen festgesetzten Zeiten ausgeschöpft sind.
Zusätzlich zu den langen Wartezeiten kann diese Zwangspause gerade bei komplexen Erkrankungen zur Chronifizierung der Erkrankung führen.
Meine Mitbewohnerin ist durch ihre psychischen Erkrankungen im Alltag stark eingeschränkt. Viele alltägliche Aufgaben sind alleine nicht möglich, sondern brauchen Unterstützung. Beim Einkaufen, Bahnfahren und bei Arztterminen braucht es immer eine Begleitung – eine Begleitung die in der Regel vom sozialen Umfeld geleistet wird. Für das soziale Umfeld bedeutet das natürlich eine Menge Carearbeit, die unentgeltlich geleistet wird. Ich bin eingetragene Pflegeperson und bekomme für anerkannte 25 Stunden Arbeit pro Woche eine handvoll Zuschüsse zu meinen Rentenbeiträgen von der Pflegeversicherung.
Grundsätzlich bedeutet psychische Krankheit auch oft Armut. Viele psychisch Kranke landen im menschenverachtenden Hartz4-System. Aufgrund ihrer Erkrankung ist auch meine Mitbewohnerin dauerhaft arbeitsunfähig, sie erhält jedoch keine Sozialleistungen, da wir zusammen leben und ich somit mit für ihren Unterhalt aufkommen muss. Das führt zu der absurden Situation, dass wir beide mehr Geld hätten, wenn sich jemand von uns noch eine zusätzliche Wohnung nehmen würde.
Diese Konstellation belastet natürlich unsere Beziehung und sorgt für Abhängigkeiten, die oft für Frust und Schuldgefühle sorgen. Wir versuchen dem durch möglichst offene Gespräche über die Situation und die Inanspruchnahme möglichst vieler staatlicher Hilfsangebote entgegenzuwirken. Allein das Finden und die Inanspruchnahme solcher Hilfsangebote bedeutet allerdings oft eine Menge zusätzliche Arbeit. Mit Telefonaten, Anträgen, Seitenweisen Papierkram und stundenlangen Recherchen. Bei der Bewilligung vieler Angebote wird sich dann oft an körperlichen Erkrankungen orientiert, wie z.B. beim Pflegegrad oder bei dem Grad der Behinderung. Bei jedem Antrag besteht also eine Abhängigkeit davon ob die entscheidende Person auch psychische Erkrankungen anerkennt. Gerät man an die falsche Person, heißt es Widerspruch schreiben und der ganze Antrag geht wieder von vorne los. Wir mussten auch schon mehrere Widerspruchsverfahren abbrechen, weil einfach die Kraft dafür fehlte.
Man muss sich vorstellen, dass all diese Arbeit von Menschen geleistet werden muss, die eigentlich dringend und ganz akut Hilfe benötigen. Psychische Erkrankungen sind eben keine schlechte Laune, sondern potentiell lebensbedrohlich. Dabei sind wir als Muttersprachler:innen mit halbwegs akademischem Background noch deutlich privilegiert. Man kann sich kaum vorstellen wie schwierig die Suche nach Hilfe für manch andere Menschen sein muss. Der Zugang zu Hilfsangeboten muss deutlich einfacher und transparenter werden! Es kann nicht sein, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen erst Expert:innen im Bürokratiedschungel werden müssen um die Hilfen zu bekommen die sie benötigen.
Weil die ambulante Unterstützung oftmals nicht ausreicht wird die Behandlung oft in stationären Therapien fortgesetzt. Doch auch das war während Corona deutlich schwieriger. Auch die Kliniken hatten deutlich mehr Anfragen und dadurch höhere Wartezeiten. Außerdem sind Kliniken natürlich besonders von Corona-Ausbrüchen gefährdet und haben deshalb oft strikte Hygienekonzepte. Was grundsätzlich zwar sinnvoll und nachvollziehbar ist, bedeutet für Psychisch Kranke oft weitere Probleme. Meine Mitbewohnerin kann aufgrund ihrer Erkrankung keine Maske tragen. Neben der alltäglichen Belastung, weil sie oft Angst haben muss mit irgendwelchen Coronaleugner:innen in einen Topf geworfen zu werden, bedeutet das auch, dass eine Behandlung in Kliniken mit Maskenpflicht nicht möglich ist. Um genau zu sein, gibt es nur noch eine Klinik in ganz Deutschland, in der für Patient:innen keine umfangreiche Maskenpflicht herrscht und die die Erkrankung meiner Mitbewohnerin behandeln kann. Das ist gerade auch deshalb problematisch, weil sie damit kein Einzelfall ist, sondern es häufiges Symptom ihrer Erkrankung ist. Somit wird einer ganzen Gruppen von Menschen eine angemessene Behandlung verunmöglicht.
Auch die Therapie in der einen noch möglichen Klinik ist nicht perfekt. Sie bietet nur eine Kurzzeittherapie an, obwohl eine Langzeittherapie benötigt werden würde. Die Klinik entlässt die Patient:innen nach Zeitplan, ungeachtet des Gesundheitszustands. Hier zeigt sich, dass auch psychotherapeutische Kliniken als Unternehmen geführt werden und deshalb auch möglichst erfolgreich sein müssen um Profit zu erwirtschaften. Meine Mitbewohnerin wurde bei ihrem letzten Klinikaufenthalt als „arbeitsfähig“ entlassen, obwohl sie auch noch danach dauerhaft arbeitsunfähig geschrieben wurde. Die behandelnde Therapeutin hat ihr gegenüber zugegeben, dass sie das in den Abschlussbericht schreiben muss, obwohl sie wusste dass es nicht der Realität entsprach. Für die Kostenträger, sei es nun Rentenversicherung oder Krankenkasse, gilt eine Therapie nur als erfolgreich, wenn die Patient:in wieder „fit“ für den Arbeitsmarkt ist, ganz unabhängig vom tatsächlichen Gesundheitszustand. Das folgt der gleichen kapitalistischen Logik, wie die Begrenzung der ambulanten Therapien auf eine bestimmte Stundenzahl oder die Festlegung der Kassensitze deutlich unter dem tatsächlichen Bedarf.
Wir brauchen aber endlich ein Gesundheitssystem, dass nicht nach wirtschaftlichen Grundsätzen funktioniert, sondern nach den gesundheitlichen Bedürfnisse der Patient:innen!
Kurzfristig heißt das:
- Unbürokratischere und transparentere Hilfsangebote!
- Mehr Kassensitze für Therapeut:innen!
- Und mehr Unterstützung für pflegende Angehörige!