[Redebeitrag] Gedenkdemo 9.11.22

„Wir haben davon nichts gewusst!“
Während sich eingefleischte Nationalsozialist:innen nach der Niederlage des faschistischen Deutschlands ins Ausland absetzten oder ihre Verantwortung klein redeten, war diese Aussage in der deutschen Zivilgesellschaft weit verbreitet. Von Deportationen, Zwangsarbeit, Lagern – sprich: von der Vernichtung jüdischen Lebens, habe man nichts mitbekommen. Anstatt die eigene Mitverantwortung anzuerkennen, gesellschaftlich aufzuarbeiten und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, wurde geschwiegen und geleugnet.

Dabei dürfte jedem oder jeder klar sein, dass die Shoa und die damit einhergehende Ermordung von über 6 Millionen Jüdinnen und Juden nicht ausschließlich in Auschwitz, Treblinka oder Majdanek stattfand. Denn die deutschen Faschist:innen hatten die Auslöschung von jüdischem Leben auf ein industrielles Maß „perfektioniert“. Die Vernichtungslager in Polen und anderen weit entfernten Orten waren nur das Ende der grausamen Logistikkette, die die Nazis und ihre Unterstützer:innen aufgebaut hatten. Der Anfang der Vernichtung begann in Städten und Wohnsiedlungen überall in Deutschland. Die unzähligen Stolpersteine, die auch bei uns in Bielefeld in vielen Straßen zu finden sind, zeigen, dass es sich nicht um „Fremde“ handelte, die deportiert und ermordet wurden, sondern, um die eigenen Nachbar:innen und Arbeitskolleg:innen.

Es war nicht die Unwissenheit, die zu der Gleichgültigkeit führte mit der jüdische Menschen ausgegrenzt, deportiert und vernichtet wurden – es war der Hass auf alles vermeintlich Jüdische. Es war der Hass und die Gleichgültigkeit einer Volksgemeinschaft, die im antisemitischen Wahn jede Menschlichkeit abgelegt hatte – und der sich nur wenige Bielefelder:innen widersetzt haben. Marie Luise Hartmann, Hermann Kleinewächter oder Rudolf Sauer – waren drei der Wenigen, die sich im Gegensatz zu den meisten anderen Bielefelder:innen der Ideologie des Faschismus mit verschiedenen Mitteln entgegenstellten.

Die grausame Ausmerzung jüdischen Lebens war überall sichtbar – auch Mitten in der Bielefelder Innenstadt. So auch genau hier, im Herzen der Bielefelder Altstadt, die auch damals schon ein Ort des gesellschaftlichen Lebens war. Während hier auf dem Alten Markt Bielefelder:innen in Cafés saßen und Kaffee tranken, befanden sich in unmittelbarer Nähe gleich drei sogenannte Judenhäuser: Am Oberntorwall 2, in der Steinstraße 7 und in der Ritterstraße 57.

In letzterem befand sich bis 1939 das Ofen-, Eisen- und Haushaltswarengeschäft Adolf Heine, welches Thekla Lieber gehörte. 1937 wurde ihr Wohn- und Geschäftshaus arisiert und zwei Jahre später im Zuge der Verdrängung jüdischen Lebens aus der Öffentlichkeit zu einem sogenannten „Judenhaus“ deklariert. Juden und Jüdinnen wurden hier zwangsweise einquartiert und mussten auf engstem Raum unter unmenschlichsten Bedingungen wohnen – bis zu ihrer Deportation.

Von den sogenannten Judenhäusern aus ging es für Viele zur zentralen Sammelstelle im Kyffhäuser Haus am Kesselbrink. Von dort aus würden die Menschen zum Bielefelder Hauptbahnhof gebracht – das passierte unter den Augen der Öffentlichkeit. Hier begann für Viele die letzte Fahrt, welche für die meisten in den Lagern und Ghettos von Auschwitz, Theresienstadt und Riga endete.

So erging es auch Thekla Lieber. Wie die meisten Bielefelder Jüdinnen und Juden, hat sie die Shoa leider nicht überlebt. Sie wurde am 10. oder 11. Juli 1942 mit hoher Wahrscheinlichkeit nach Auschwitz deportiert. Wo und wann sie ermordet wurde, ist bis heute unbekannt. Für Thekla und ihre Schwägerin Toni Lieber, die nach Warschau deportiert wurde und deren Todesort und -datum ebenfalls unbekannt ist, wurden am 30.Oktober 2006 zwei Stolpersteine verlegt.

Vieles über die grausame Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialist:innen wissen wir nur durch mutige Menschen wie Thekla Lieber. Denn auch, wenn sie die Shoa nicht überlebt hat, hat sie sich dem Ziel der deutschen Faschist:innen, jüdisches Leben vollständig auszulöschen, widersetzt. Während ihrer Deportation von Bielefeld nach Auschwitz warf Thekla Lieber Postkarten aus dem Zug. Erst durch ihre Briefe wurden die Geschehnisse dokumentiert und eine Rekonstruktion der Deportation ermöglicht.

Insgesamt wurden in Bielefeld mindestens 429 Menschen wegen solchen und anderen Widerstandshandlungen festgenommen. Im Gegensatz zur aktiven Zustimmung oder schweigenden Passivität der meisten Bielefelder:innen, die angeblich nichts gewusst haben wollen, haben diese Menschen gezeigt, dass es eine Wahl gab und Widerstand auch mit einfachen Mitteln möglich war – wie das Beispiel der Postkarten von Thekla Lieber eindrücklich zeigt.

Gerade wenn jüdische Menschen in der Geschichtsschreibung als vermeintlich passive Objekte statt als handelnde Subjekte dargestellt werden, ist wichtig festzuhalten: Jede und jeder der die grausame Zeit des deutschen Faschismus und die Lager überlebt hat, hat der nationalsozialistischen Ideologie getrotzt. Sie haben nicht zugelassen, dass ihr Leben und ihre Geschichte vollständig ausgelöscht wird, obwohl den Nazis keine Grausamkeit zu barbarisch war, um jüdisches Leben vollständig zu vernichten. Ohne die Überlebenden, die die Hölle auf Erden durchgehalten haben, wüssten wir viel weniger über die Geschehnisse der Shoah und die industrielle Ermordung eines Großteils der in Europa lebenden jüdischen Menschen. Und letztlich wären ohne sie noch mehr Täter:innen davongekommen.

Mit der heutigen Demonstration möchten wir diesen Menschen wie auch allen anderen Opfern des nationalsozialistischen Deutschlands gedenken.

Abschließen möchten wir unseren Redebeitrag wie in den letzten Jahren mit dem Schwur von Buchenwald: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“